«Strafe muss sein», «Erst die Arbeit, dann das Vergnügen», «Ordnung ist das halbe Leben»: In solchen Redensarten stecken Erziehungsmythen, die das Verhalten von uns Eltern oft mehr prägen, als wir denken – und anders, als wir wollen. 22 gängige Glaubenssätze auf dem Experten-Prüfstand.


Dieser Text erschien im Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi, Ausgabe 4/April, 2023
Publikation mit freundlicher Genehmigung der Stiftung Elternsein, Zürich
https://www.fritzundfraenzi.ch/erziehung/was-eltern-zu-wissen-glauben/

Laden Sie sich den Artikel auf Ihr Gerät und viel Spass beim Lesen wünscht Ihnen die Schulsozialarbeit der Primarschule in Niederhasli.

1. Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf.
Den Kindern reichen ein bis zwei Personen, zu denen sie eine sichere Bindung haben. Jede weitere Person, wie etwa Oma oder Opa, bereichern ihr Leben natürlich. Ganz anders sieht es für die Eltern aus. Sie brauchen zur Unterstützung und Entlastung dieses Dorf oder Netzwerk, wie man heute eher sagen würde. Nur wenn Eltern ein solches Netz haben, finden sie auch Raum für ihre eigenen Bedürfnisse. Und nur wenn es den Eltern gut geht, können sie auch gut für ihre Kinder sorgen.

Das Netzwerk ist auch wichtig, um sich mit anderen über Erziehung oder familiäre Probleme auszutauschen. Denn jede Familie kommt mal an den Punkt, wo sie alleine nicht weiterweiss. Leider erlebe ich inzwischen sehr viele Eltern, die recht isoliert sind und wenige Aussenkontakte haben.

Zu früheren Zeiten waren im Dorf die familiären Strukturen einfach gegeben, heute liegt es mehr in der eigenen Verantwortung, sich dieses Dorf aufzubauen. Eine Möglichkeit dazu sind Elterngruppen oder Kurse unter fachlicher Leitung, in denen ein anderer Austausch und ein Lernen voneinander eher möglich sind als auf dem Spielplatz. Eltern werden hier in ihrer Kompetenz gestärkt, erleben, dass sie nicht allein sind mit ihrer Unsicherheit, ihren Fragen und Schwierigkeiten.

Maya Risch, Familienberaterin

2. Strafe muss sein – und erwünschtes Verhalten muss belohnt werden.

Strafe und Belohnung sind einfache und wirksame Werkzeuge in der Erziehung. Sätze wie «Wenn du dein Zimmer nicht aufräumst, dann darfst du deine Freunde nicht treffen» oder «Für ordentliche Hausaufgaben gibt es ein Sternchen» sind deshalb bei einigen Eltern oder auch in der Schule bis heute an der Tagesordnung. Wer diese Werkzeuge benutzt, dem muss aber klar sein: Sie funktionieren nur, weil sie bei den Kindern Angst erzeugen. Angst vor der Strafe. Oder Angst davor, keine Belohnung zu bekommen. Und weil Eltern damit ihre Macht demonstrieren können. Wollen wir, dass Kinder Angst haben? Oder wollen wir, dass sie uns als Eltern respektieren? Kinder sind nun mal stark abhängig von uns Erwachsenen. Also machen sie fast alles, um geliebt zu werden.

Wenn Kinder nicht mit uns Erwachsenen kooperieren, geht es ihnen nicht darum, uns zu ärgern. Sie signalisieren uns dann, dass in ihrem eigenen Dasein gerade etwas schwierig ist. Statt sie mit Strafe oder Belohnung unter Druck zu setzen, lohnt es sich, genauer hinzuschauen und sich zu überlegen: Warum kooperiert mein Kind gerade nicht? Klar, Widerstand aushalten, diskutieren und verhandeln – das alles ist viel anstrengender als Strafe und Belohnung anzuwenden. Aber es fördert die Eigenverantwortung der Kinder. Wenn Eltern das mal nicht aushalten können, dann dürfen sie ruhig rausgehen und sagen: «Ich brauche jetzt eine Pause und dann besprechen wir das nochmal.» Punkt. «Sonst passiert das und das», können sie dabei getrost weglassen.

Maya Risch

3. Eltern müssen konsequent sein.

Diesem Satz liegt der Glaube zugrunde, dass man mit einer konsequenten Erziehung die Entwicklung der Kinder beeinflussen könne. Tatsächlich zeigen Studien, dass die Eltern aber nur einen begrenzten Einfluss darauf haben, welchen Weg ein Kind macht. Denn das Kind gibt mit seiner Persönlichkeit den Takt vor. Daneben hat auch sein weiteres Umfeld eine grosse Bedeutung. So können Eltern nicht wirklich beeinflussen, welche Lehrpersonen einem Kind zugeteilt werden, mit wem es sich anfreundet oder welche Charaktere die Geschwisterkinder haben.

Klar sollen Eltern einen Rahmen geben und Vorbild sein. Aber weder sie selbst noch die Kinder sind Roboter, die immer gleich funktionieren. Je nachdem, welche Bedürfnisse das Kind hat und was zur jeweiligen Situation passt, müssen die Eltern anders reagieren. Dabei ist Flexibilität angesagt und keine starren Verhaltensweisen. Und es ist auch nicht schlimm, wenn mal etwas nicht so gut läuft. Wichtig ist, dass man darüber spricht und die Eltern und Kinder daraus lernen. Perfektionismus in der Erziehung ist inzwischen leider weit verbreitet. Besser man meidet ihn, und zwar konsequent.

Oskar Jenni, Kinder- und Jugendmediziner

4. Wie der Vater, so der Sohn.

Der Familienbetrieb brauchte einen Nachfolger, also trat der Sohn in die Fussstapfen des Vaters. Früher gab es dazu oft keine Alternative, und es war auch eine Frage des Respekts, das weiterzuführen, was die Familie sich aufgebaut hatte. Wer das nicht konnte oder wollte, der hat sich mit dem väterlichen Erbe sicherlich gefühlt wie in einem Gefängnis. Insofern ist es schon gut, dass man heute mehr individuelle Freiheiten hat.

Ich finde aber, man kann diesen Satz auch als Erziehungsauftrag der Väter sehen. Dass sie ihre Art und Weise, Mann zu sein, an die Söhne weitergeben. Ihnen zeigen, wie man das Leben bewältigt, wie man sich durch schwierige Situationen kämpft, verliert, wieder aufsteht und weitermacht. Männer haben eine andere Rolle in der Gesellschaft als Frauen. Deshalb gibt es einfach Dinge, die nur Männer ihren Söhnen vermitteln können – genauso wie es Dinge gibt, die nur Frauen ihren Töchtern mitgeben können. Die Vorbildrolle von Eltern ist immens wichtig – und es ist gut, wenn Väter sich dieser Verantwortung stellen.

Philipp Ramming, Fachpsychologe für Kinder- und Jugendpsychologie

5. Die richtige Erziehung gibt es nicht.

Ich würde eher sagen, dass es in unserer Gesellschaft heute keinen Konsens mehr darüber gibt, was richtige Erziehung ist. Früher war klar: Kinder sind kleine Tyrannen, die man zu Gehorsam erziehen muss – durch Unterordnung, Macht, Strenge. Eine solch klare Linie gibt es heute nicht mehr. Für Eltern heisst das: Sie müssen mehr nachdenken, ihre individuellen Wege finden. Das sorgt für mehr Unsicherheiten. Aber man darf dabei nicht vergessen, dass es trotzdem noch Aspekte gibt, die jeder Erziehung zugrunde liegen sollten, Gewaltfreiheit beispielsweise.

Alle Kinder haben dieselben psychischen Grundbedürfnisse. Sie wollen verlässliche Bindungen aufbauen. Sie brauchen Sicherheit, Anerkennung, Wertschätzung und Orientierung. Sie wollen sich weiterentwickeln, autonom werden und selbstwirksam. Unser Zusammenleben mit Kindern sollte darauf ausgelegt sein, dass diese Bedürfnisse berücksichtigt werden. Wie genau wir all das umsetzen und mit welchen Prioritäten, das muss jede Familie für sich selbst herausfinden – inklusive persönlicher Werte und Grenzen, die auch individuell verschieden sind. Es gibt also nicht den einen richtigen Erziehungsweg. Aber gemeinsame Ziele, die bei der Erziehung erreicht werden sollten, die gibt es durchaus.

Stefanie Rietzler, Kinder- und Jugendpsychologin

6. Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.

Kritische Phasen gibt es tatsächlich für gewisse Wahrnehmungsbereiche wie zum Beispiel für das Sehen. Werden neugeborenen Kätzchen in den ersten Wochen nach der Geburt die Augen verbunden, dann werden sie später nicht sehen können. Dieses Alles-oder-nichts-Prinzip existiert für andere Entwicklungsbereiche aber nicht. Es gibt zwar begrenzte Zeitfenster, in denen Kinder bestimmte Dinge effektiver oder einfacher lernen als später – dazu gehört beispielsweise die Sprache. Aber auch ein Erwachsener kann eine Fremdsprache lernen, wenn er zum Beispiel für längere Zeit im Ausland lebt.

Das Gehirn lernt ein Leben lang, auch wenn die Lernfähigkeit im Alter etwas abnimmt. Vielleicht brauchen wir dann länger als ein Kind, um ein Musikinstrument zu beherrschen. Das muss aber auch nicht zwingend etwas mit dem Alter zu tun haben. Da spielt auch musikalisches Talent eine Rolle. Oder die Frage, wie viel man übt.

Oskar Jenni

7. Später wirst du uns dafür noch dankbar sein.

Kein Kind hat es sich selbst ausgesucht, auf die Welt zu kommen. Kinder zu zeugen, ist ein sehr selbstbezogenes Verhalten der Eltern. Deshalb haben auch sie die Verantwortung für das Leben ihrer Kinder. Sie müssen Entscheidungen für deren Zukunft treffen. Manche sind richtig, manche sind falsch.

Vielleicht ist das Kind tatsächlich mal dankbar dafür, dass es ein Instrument lernen durfte oder auf einer bestimmten Schule war. Dann ist es ein Geschenk an die Eltern. Vielleicht aber behält es diese Zeit auch als qualvoll in Erinnerung – und auch das ist sein gutes Recht. Eltern haben keinen Anspruch auf Dankbarkeit. Ich denke, dass vielmehr die Eltern dankbar dafür sein müssen, dass die von ihnen gewollten Kinder ihr eigenes Leben bereichern.

Christine Ordnung, Familientherapeutin

8. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.

Nach dieser Devise leben sehr viele Erwachsene. Und deshalb sagen sie auch zu ihren Kindern: «Erst machst du deine Hausaufgaben, dann kannst du raus zum Spielen.» Ich finde diese Herangehensweise aus mehreren Gründen problematisch. Einmal bedeutet sie ja, dass Arbeit keinen Spass machen darf, sondern das Gegenteil von Vergnügen ist. Dabei ist es doch viel sinnvoller, den Fokus auf das zu richten, was mir an der Arbeit gefallen könnte oder wie ich sie mir möglichst angenehm machen kann.

Ausserdem wird Erholung automatisch an Leistung gekoppelt. Aber muss ich immer erst alle To-Dos abgearbeitet haben, bevor ich mich ausruhen darf? Diese Haltung treibt viele Erwachsene in die Erschöpfung. Und was ist mit den Menschen, die besser arbeiten oder ihre Hausaufgaben machen können, nachdem sie sich ausgeruht haben oder beim Sport waren?

Stefanie Rietzler

9. Ein Indianer kennt keinen Schmerz.

Ein ausgezeichneter Satz! Klar, er kommt etwas romantisierend daher, in der Tradition der Karl-May-Indianer-Abenteuer. Aber die Botschaft gefällt mir: Auch wenn man mal auf die Nase fällt und es wehtut, kann man immer wieder aufstehen und weitermachen. Das Leben ist manchmal ziemlich rau und unfreundlich. Das gilt natürlich genauso für Frauen. Ich würde den Satz also gern noch erweitern: Auch eine Amazone kennt keinen Schmerz.

Philipp Ramming

10. Ordnung ist das halbe Leben.

Als Kind fand ich es ganz schrecklich, mit meinem Nachnamen «Ordnung» aufzuwachsen. Denn ich wurde von den Lehrkräften immer an einer Definition von Ordnung gemessen, die ich nicht hinreichend erfüllen konnte. Was genau ist denn bitte Ordnung? Ich denke, es gibt sehr viele verschiedene Ordnungssysteme. Jeder hat seine eigenen Kriterien für Ordnung, jeder empfindet einen anderen Zustand als aufgeräumt. Das führt natürlich gerade in Familien zu Konflikten. Und es braucht sicherlich Kreativität sowie einen kritischen Blick auf die Definitionsmacht der Eltern, damit sich alle in einem Haushalt wohlfühlen können.

Früher war das recht einfach: Da gab es die tüchtige Hausfrau, ihre Massstäbe zur Ordnung mussten alle anderen übernehmen. Heute wollen und suchen wir eine andere Form des gleichberechtigten Miteinanders. Das bedeutet auch beim Thema Aufräumen: Miteinander reden, Verantwortlichkeiten abstecken, Toleranz zeigen.

Christine Ordnung

11. Streiten vor dem Kind ist tabu.

Nein, ist es nicht. Ich finde es sogar ganz wichtig, dass Kinder erleben dürfen, dass Streit zum Zusammenleben eben auch dazugehört. Aber man muss sich bewusst sein, über welche Themen und vor allem in welcher Form man vor dem Kind streitet. Wenn ich das in respektvoller Form schaffe, lernt das Kind ja sogar dabei, wie es selbst Konflikte angehen kann.

Ohnehin ist es naiv zu glauben, dass Kinder es nicht merken, wenn Eltern sich streiten. Denn selbst wenn das nur hinter verschlossenen Türen passiert, wenn die Kinder schlafen oder nicht da sind, spüren sie trotzdem die Atmosphäre zwischen den Eltern. Und das verunsichert sie stark. Da geht man lieber offen auf die Kinder zu und sagt ihnen: Es ist gerade schwierig zwischen uns.

Christine Ordnung

12. Was auf den Teller kommt, wird aufgegessen.

«Iss deinen Teller leer! Komm, wenigstens einen Probierklecks schaffst du! Gemüse gehört auch dazu!» Solche Sätze rutschen uns gern über die Lippen. Besser aber wäre es, sie sich zu verkneifen. Denn sie stammen aus einer Zeit, als man noch froh war, sich überhaupt mal sattessen zu können.

Heute aber leiden die meisten Menschen in Industrienationen keinen Hunger mehr, sondern leben im Überfluss. Wer da nicht auf sein inneres Sättigungsgefühl hört, hat schnell ein Problem mit Übergewicht. Bei Kindern ist dieses Sättigungsgefühl in der Regel noch gut ausgeprägt – vorausgesetzt, man lässt sie beim Essen selbst bestimmen, wann Schluss ist. Und wenn dann das Gemüse auf dem Teller liegen bleibt, dann ist das eben so.

Aus der Forschung wissen wir, dass mehr als die Hälfte aller Kinder in bestimmten Lebensabschnitten zu den sogenannten «picky eaters» gehören. Das heisst, sie sind sehr wählerisch beim Essen, ja fürchten sich geradezu vor neuen Lebensmitteln. Üben Eltern dann Druck aus, wird dieses mäkelige Essen eher noch verstärkt und bleibt auch länger bestehen. Lernen Kinder Obst und Gemüse dagegen nicht unter Zwang kennen, greifen sie irgendwann auch lieber zu. Spätestens im Erwachsenenalter wird dann oft tatsächlich gegessen, was auf den Teller kommt.

Stefanie Rietzler

13. Jungs sind anstrengender als Mädchen.

Das hört man häufig, vor allem im schulischen Kontext. Aber was bedeutet «anstrengender»? Jungs gestalten ihr Umfeld oft kreativer, sind mehr in Bewegung und vielleicht nicht ganz so brav und angepasst wie Mädchen. Kurz: Sie haben mehr Energie. Deshalb passen sie nicht so gut in unser Schulsystem wie Mädchen. Und was nicht passt, wird offenbar als anstrengend empfunden. Wenn man aber mal überlegt, was das im Umkehrschluss für die Mädchen bedeutet – nämlich, dass sie gefügig, hörig und stromlinienförmig sind –, dann zeigt dieser Satz seine ganze Bitterkeit. Von daher braucht ihn kein Mensch.

Philipp Ramming

14. Bis Kinder 12 Jahre alt sind, kann man sie erziehen. Danach nicht mehr.

Da ist sicherlich etwas dran. Je weniger Kinder physisch und emotional auf die Eltern angewiesen sind, umso weniger Einfluss haben diese. Gleichaltrige und Freunde nehmen dann diesen Platz ein. Dadurch verändert sich die Beziehung zu den Kindern stark.

Eltern von Teenagern müssen darauf vertrauen, dass sie ihnen in den ersten 12 Jahren das Wichtigste vorgelebt und mitgegeben haben. Dass sie eine verlässliche Beziehung auf Augenhöhe aufgebaut haben und dass diese Beziehung trägt. Dann behalten sie auch weiterhin Einfluss auf die Entwicklung der Kinder. Und natürlich werden Eltern von den Kindern trotzdem weiterhin gebraucht: um sich für ihr Leben zu interessieren und um ihnen Grenzen zu ziehen. Und auch, um bei der Erziehung an der einen oder anderen Stelle noch korrigierend einzugreifen. Dazu ist es nie zu spät, aber es wird eben schwieriger.

Ein Beispiel: Eltern haben ihr Smartphone viele Jahre, bevor die Kinder auch eins bekommen. Und dann stört es sie plötzlich, dass die Kinder damit am Esstisch rumspielen oder es im Bett nutzen – dabei haben sie es selbst womöglich nicht anders vorgelebt. Dann hilft nur ein ehrliches Gespräch: «Wir verbringen alle viel zu viel Zeit mit dem Smartphone. Es wäre schön, wenn wir gemeinsam nach neuen Wegen suchen, wie wir das ändern. Und natürlich machen wir Eltern da auch mit.» Der Dialog ist das beste Werkzeug, um mit Jugendlichen im Kontakt zu bleiben.

Maya Risch

15. Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.

Damit Kinder etwas lernen, darf man sie durchaus fördern und fordern. Aber vielen Eltern, Lehrpersonen und Erziehern fehlt manchmal das Wissen, was ein Kind in einem bestimmten Alter überhaupt schon kann. Wenn es von der kognitiven Entwicklung her beispielsweise noch nicht so weit ist, dass es seine Bedürfnisse zurückstellen kann, dann ist es eben nicht in der Lage, mit dem Essen zu warten.

Ist Eltern das nicht klar, führt das zu schwierigen Erziehungssituationen. Und dabei hilft auch kein starrer Plan, in dem steht: Ah, mein Kind ist so und so alt, also muss es dieses oder jenes schon können. Es braucht ein Gespür dafür, wo das Kind steht und was es weder unter- noch überfordert. Und dann kann ich Angebote machen. Vielleicht interessiert es sich schon für Buchstaben oder für Politik. Und wenn nicht, dann probiere ich es eben in zwei Monaten nochmal.

Maya Risch

16. Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht.

Da stellt sich für mich gleich die Gegenfrage: Gibt es Platz für die Wahrheit? Ich denke, Kinder «lügen» vor allem deshalb, weil sie die Eltern schonen wollen. Weil sie sich nicht sicher sind, ob die Eltern die Wahrheit aushalten, ob Platz dafür ist im familiären Wertesystem. Und das können nur die Eltern selbst beantworten. Das hat gerade bei Heranwachsenden auch sehr viel mit der Qualität der Beziehung zu tun: Wie gross ist das Vertrauen zu den Kindern? Wie geht man als Eltern damit um, dass man nicht mehr alles mitbekommt und die Kinder nicht mehr schützen kann? Und wie gut kann man damit umgehen, dass Kinder vielleicht auch andere Wege einschlagen, als die, die man selbst genommen hätte? Denn dass es nur den einen richtigen Weg gibt, das ist die grösste Lüge überhaupt.

Christine Ordnung

17. Wenn ein Kind angegriffen wird, darf es zurückschlagen.

Ja, das darf es – es muss aber nicht. Jedes Kind muss seinen eigenen Weg finden, um sich zu wehren. Die einen machen sich unsichtbar, andere laufen davon, wieder andere schlagen eben zurück. Die Aufgabe von Erwachsenen besteht darin, ein solches Verhalten zu begleiten. Zu fragen: Wie ist das für dich? Gäbe es vielleicht einen Weg, mit dem es dir besser geht? Einfach nur zu sagen «Geschlagen wird nicht», das halte ich für schwierig und das kann auch für die Kinder schwierig sein. Eltern haben nicht unbedingt Einblick in das, was es an einer Schule beispielsweise braucht, um sich durchzusetzen.

Christine Ordnung

18. Hausaufgaben sind nicht Sache der Eltern.

Vom Prinzip her halte ich diesen Satz für richtig. Die Kinder hätten mehr Chancengleichheit, wenn Hausaufgaben die Sache von Kind und Schule wären oder abgeschafft würden. In der Realität helfen aber über 90 Prozent aller Eltern bei den Hausaufgaben. Und es ist absolut verständlich, dass man das eigene Kind unterstützen und ihm einen bestmöglichen Start in die Zukunft mitgeben möchte. Dadurch haben Akademikerkinder natürlich einen Vorteil, und das zeigt sich in den Bildungsstudien dann auch.

Was man in den Studien aber auch sieht: Es ist nicht nur die konkrete Hilfe. Es ist vor allem das Interesse der Eltern am Schulstoff. Die Tatsache, ob die Kinder einen guten Ort und eine gute Struktur für ihre Hausaufgaben finden. Ob bei Rückfragen jemand da ist, der sie zur Selbsthilfe anregt. Manchmal reicht es ja schon nachzufragen: Was hat denn dein Lehrer dazu erklärt? Habt ihr so eine ähnliche Aufgabe schon mal gemacht? Wer bei euch in der Klasse könnte denn da weiterwissen? Wenn Eltern sich zu stark einmischen und inhaltlich zu stark helfen, wirkt sich das negativ auf die Leistung und Motivation aus.

Stefanie Rietzler

19. Eltern müssen am selben Strick ziehen.

Sicher ist es hilfreich, wenn sich Eltern auf einen groben Rahmen bei der Erziehung einigen und die grossen Ziele gemeinsam verfolgen. Welche Werte sind uns wichtig? Und wie wollen wir das erreichen? Darüber sollte man sich schon mal in Ruhe austauschen, zumal die beiden Elternteile ja häufig selbst mit ganz unterschiedlichen Erziehungsstilen aufgewachsen sind. Aber im Alltag, in Einzelsituationen müssen und können Eltern gar nicht immer einer Meinung sein. Und damit kommen die Kinder auch gut klar. Vorausgesetzt, sie sehen, wer von den Eltern gerade überhaupt am Strick zieht. Also wer übernimmt das Ins-Bett-Bringen? Wer sorgt dafür, dass aufgeräumt wird? Diese Klarheit, wer gerade die Führung hat, fehlt im Alltag häufig.

Ich denke, viele Familien kennen diese Situation, wenn man als Vater oder Mutter mal mit den Kindern allein ist und plötzlich läuft es viel besser als sonst – eben weil für die Kinder klar ist, wer gerade das Kommando hat. Und der andere tut gut daran, sich zurückzunehmen. Gerade Mütter möchten gern, dass die Väter mehr Verantwortung übernehmen – und dann wollen sie doch vorgeben, wie das auszusehen hat. Das funktioniert aber nicht, so kann sich der Vater ja nicht authentisch verhalten. Wenn man dann mal anderer Meinung ist als der Partner, kann man später das Gespräch darüber suchen – ohne die Kinder.

Maya Risch

20. Entspannte Eltern haben entspannte Kinder.

Dieser Satz erzeugt so viel Druck und so viele Schuldgefühle bei Eltern! Denn der Umkehrschluss heisst ja: Wenn dein Kind nicht entspannt ist, bist du schuld, weil du zu unentspannt bist. Aber so einfach ist das nicht. Wir wissen aus der Forschung zwar, dass sich Stress in der Schwangerschaft auch aufs Ungeborene auswirkt. Und da Kinder soziale Wesen sind, lassen sie sich natürlich von positiven wie negativen Gefühlen in ihrem Umfeld anstecken. Aber unsere Reizsensitivität und unsere Lebenseinstellung haben eben auch eine genetische Komponente.

Das merken Eltern immer dann, wenn ihr erstes Kind so ein entspanntes war. Und dann kommt das Geschwisterkind dazu und hat ein ganz anderes Temperament. Es ist wissenschaftlich erwiesen: Rund 40 Prozent der Kinder sind von Anfang an fröhlich, zufrieden, ausgeglichen und lassen sich durch kaum etwas aus der Ruhe bringen. Weitere 40 Prozent lassen sich zwar schneller aus der Ruhe bringen, beruhigen sich aber auch rasch wieder. Und dann gibt es 20 Prozent, die hochirritierbar sind, sich schlecht trösten lassen und eben nicht so in sich ruhen – auch wenn die Eltern liebevoll und besonnen reagieren.

Dass es ein solches angeborenes Grundtemperament gibt, wird auch in Kindergärten und Schulen manchmal vergessen. Dann heisst es: «Das ist alles anerzogen!» Oft vergessen wir auch die folgende Wechselwirkung: Bei Kindern, die von Geburt an ein ausgeglichenes Grundtemperament haben, fällt es den Eltern viel leichter, entspannt zu sein.

Stefanie Rietzler

21. Es kommt nicht darauf an, wie häufig Eltern zu Hause anwesend sind, wichtiger ist, dass sie mit ihren Kindern Qualitätszeit verbringen.

Die Idee der Quality Time ist, dass man sich zu einem bestimmten Termin extra Zeit nimmt für das Kind und diese Momente dann besonders wichtig sind. Das Problem dabei ist nur, dass aus Sicht des Kindes nicht jeder Zeitpunkt günstig ist. Vielleicht hat es am Samstag keine Lust, mit den Eltern ein Spiel zu spielen, der Donnerstagnachmittag wäre besser gewesen.

Je mehr Zeit wir mit den Kindern verbringen, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich während dieser Zeit günstige Gelegenheiten für ein gemeinsames Spiel ergeben. Das ist in Beziehungen unter Erwachsenen übrigens nicht anders. Beziehungen entwickeln sich mit gemeinsamer Zeit. So müssen die Kinder in den ersten Lebensjahren viel Zeit mit ihren Bezugspersonen verbringen, damit eine Bindung mit diesen überhaupt entsteht.

Später, bei Jugendlichen, ist es dann zwar so, dass sich diese von den Eltern lösen und ihren eigenen Weg gehen. Aber wenn sie dann einmal Redebedarf haben, ist es wichtig, dass wir genau dann Zeit für sie haben. Zum Glück muss es in diesem Alter nicht mehr immer die physische Anwesenheit sein. Dann reicht manchmal auch das Handy als Kontaktmöglichkeit – vorausgesetzt, die Eltern nehmen sich die Zeit, auf eine Nachricht zu antworten.

Oskar Jenni

22. Beziehung ist wichtiger als Erziehung.

Dieser Satz ist für mich eine Einladung, um in der Erziehung zu scheitern. Sicher, Erziehung braucht eine Beziehung, denn sonst ist sie Dressur. Aber wenn man die Beziehung höher wertet, dann macht man sich als Eltern erpressbar. Denn das heisst doch: Wenn Kinder nicht bekommen, was sie wollen, dann kündigen sie den Eltern eben die gute Beziehung – und die Erwachsenen stehen hilflos da und haben nichts mehr in der Hand. Ich denke, Eltern müssen es auch mal aushalten können, dass Kinder ihnen weniger Liebe entgegenbringen, wenn sie beispielsweise etwas verboten haben. Dann steht eben auch mal die Erziehung im Vordergrund und nicht die Beziehung. Grundsätzlich würde ich aber sagen: Beziehung und Erziehung brauchen sich gegenseitig und man sollte keines über das andere stellen.

Philipp Ramming